Grenzen des Gebotes fairen Verhandelns
BAG, Urteil vom 24.02.2022 (Az.: 6 AZR 333/21)
Ausgabe 50 | September 2022
Nachdem die Arbeitgeberin einer Arbeitnehmerin unterstellt hatte, unberechtigterweise Einkaufspreise
in der EDV der Arbeitgeberin geändert zu haben, um so einen höheren Verkaufsgewinn vorzuspiegeln,
legte deren Geschäftsführer im Beisein eines Rechtsanwalts der Arbeitnehmerin einen Aufhebungsvertrag
vor und machte den Abschluss dieses Vertrags von der sofortigen Annahme abhängig. Zudem
stellte die Arbeitgeberin der Arbeitnehmerin für den Fall der Nichtunterzeichnung eine fristlose Kündigung
und eine Strafanzeige in Aussicht. Der Bitte der Arbeitnehmerin, eine längere Bedenkzeit zu
erhalten, um Rechtsrat einzuholen, kam die Arbeitgeberin nicht nach. Nach zehnminütiger Pause, in
der die drei anwesenden Personen schweigend am Tisch saßen, unterschrieb die Arbeitnehmerin den
ihr vorgelegten Aufhebungsvertrag. Eine Woche später focht die Arbeitnehmerin den Aufhebungsvertrag
jedoch wegen widerrechtlicher Drohung an und machte den Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses
geltend.
Nachdem das Arbeitsgericht der Klage der Arbeitnehmerin stattgegeben hatte, wies das LAG diese
ab. Die Revision der Arbeitnehmerin vor dem BAG blieb erfolglos. Das BAG führte aus, dass es
im vorliegenden Fall an der behaupteten widerrechtlichen Drohung der Arbeitgeberin fehle. Ein verständiger
Arbeitgeber dürfe bei der geschilderten Sachlage sowohl eine fristlose Kündigung als auch
eine Strafanzeige ernsthaft in Erwägung ziehen. Auch habe die Arbeitgeberin nicht unfair verhandelt
und dadurch gegen ihre Pflichten aus § 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB verstoßen.
Die Entscheidungsfreiheit der Arbeitnehmerin sei auch nicht dadurch verletzt worden, dass der Aufhebungsvertrag
entsprechend § 147 Abs. 1 S. 1 BGB nur zur sofortigen Annahme unterbreitet wurde
und die Arbeitnehmerin daher sofort über die Annahme entscheiden musste.